Patientenversorgung in Gefahr

Experten sehen düstere Zeiten auf die europäische Medizintechnikindustrie sowie auf die Patienten zukommen. Von einer Verknappung von Medizinprodukten und einer Gefahr für medizinische Innovationen ist gar die Rede. Schuld hat die neue europäische Medizinprodukteverordnung (MDR), die verschärfte Regelungen für das Inverkehrbringen von Medizinprodukten festlegt. Für viele Produkte müssen in Zukunft Wirksamkeit und Nutzen in klinischen Studien nachgewiesen werden. Auch bereits im Markt etablierte Produkte müssen die neuen Regelungen erfüllen.

Die deutsche Medizintechnik-Industrie erzielte im letzten Jahr nach Angaben des Statistischen Bundesamtes einen Umsatz von 30,28 Milliarden Euro. Aufgrund einer geänderten Berechnungsgrundlage liegen keine differenzierten Vergleichsdaten zur Umsatzentwicklung vor. Der Branchenverband Spectaris geht jedoch davon aus, dass der Umsatz im Vergleich zu 2017 um rund 2 bis 3 % gewachsen ist. Für das laufende Jahr 2019 rechnet der Verband erneut mit einer Steigerung von 2 bis 3%. Das Auslandsgeschäft bleibt mit einer Exportquote von 65 % von zentraler Bedeutung, auch wenn die Zuwachsraten für Ausfuhren ins Ausland mit 3,3 % moderat ausfielen. Das Inlandsgeschäft liege hingegen hinter der Exportentwicklung zurück. Neben einer allgemeinen konjunkturellen Eintrübung verliere das Umsatzwachstum auf dem heimischen und europäischen Markt durch die MDR an Dynamik, so Dr. Martin Leonhard, Vorsitzender des Spectaris-Fachverbandes Medizintechnik.

Eine gemeinsame Umfrage von Spectaris und dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag verdeutlicht, welche schwerwiegenden Konsequenzen die deutschen MedTech-Unternehmen aus der neuen MDR ziehen. Demzufolge rechnen fast 80 % der deutschen Medizintechnikunternehmen mit erheblichen Schwierigkeiten, zukünftig innovative Produkte auf den Markt zu bringen. Rund die Hälfte der befragten Unternehmen sehe sich gezwungen, ihre Produktlinien zu verringern. Etwa ein Drittel plane, Produkte ganz aus dem Programm zu streichen. Ein weiteres Drittel sieht seine Existenz in Gefahr. Der Verband fordert daher praktikable Übergangslösungen, mit denen etablierte und innovative Medizinprodukte der Patientenversorgung erhalten bleiben.

Auf eine Fristverlängerung hofft indes die Deutsche Krankenhausgesellschaft. Sie bezweifelt, dass bis zum Ende der Übergangsfrist für die neue MDR im Mai des nächsten Jahres alle Produkte ihre Zulassung haben werden, zumal europaweit bisher nur zwei Prüfstellen zur Prüfung und Zulassung von Medizinprodukten nach der neuen MDR benannt wurden: TÜV Süd in München und das BSI-Institut in Großbritannien. Dieser schleppende Prozess der Neubenennung führe auch dazu, dass das Inverkehrbringen von innovativen Produkten gehemmt oder sogar ganz verhindert werde, so Spectaris. Darüber hinaus erhöhe sich die Anzahl der zu zertifizierenden Produkte durch die MDR deutlich und auch der Prüfaufwand steige.

Oft sei nicht klar, was von den Firmen eigentlich verlangt werde. Laut TÜV-Süd-Experte Bassil Akra hätten einige Hersteller bereits ihr Angebot um ein Drittel verkleinert. Etablierte Produkte verschwänden vom Markt, insbesondere Implantate seien betroffen. Es scheint, dass selbst die EU-Kommission unsicher über das Prozedere ist. Seit sie die neue Verordnung 2017 beschlossen hat, habe sie diese schon einmal geändert und neun Erklärungen hinzugefügt. Weitere Korrekturen seien zu erwarten.

Autor: Thip Pruckner, Market Intelligence Expert, SVP Deutschland AG
Quelle: Gesundheitsprofi 06/2019; Orthopädieschuhtechnik 06/2019; Spiegel Online 06.07.2019

Bild: RyanMc Guire, pixabay.com