Gesundheit im Wandel
Trends, strukturelle Herausforderungen und persistente Ungleichheiten
Die WHO beschreibt Gesundheit als körperliches, geistiges und soziales Wohlbefinden. Diese ganzheitliche Definition zeigt, dass Gesundheit durch soziale, psychologische, ökonomische und präventive Einflüsse geprägt wird.
Tiefgreifende demografische, soziale und technologische Veränderungen haben dazu geführt, dass sich Krankheitslast und Versorgungssysteme spürbar verschoben haben. Nur mit einem umfassenden Verständnis dieser komplexen Zusammenhänge lassen sich Entwicklungen antizipieren und eine langfristige Finanzierung der Gesundheitsversorgung sichern.


Gesundheitstrends und systemische Defizite
Die hohe Verfügbarkeit von Informationen führt oft zu Überforderung und erschwert es, seriöse und evidenzbasierte Gesundheitsquellen zu identifizieren. Besonders die Interpretation medizinischer Studien oder das Erkennen von Werbung für Gesundheitsprodukte ist für viele Laien problematisch.
Bei der Ernährungsbildung zeigen sich Defizite, vor allem bei sozial benachteiligten Gruppen, auch weil der Zugang zu gesunden Lebensmitteln und Bildungsangeboten für Kinder nach wie vor begrenzt ist. Gesundheits-Apps und Wearables fördern eine individualisierte Sicht auf Gesundheit, bergen aber gleichzeitig Risiken für Fehldeutungen und medizinisch problematische Selbstoptimierung, da ärztliche Begleitung oft fehlt.

Persistente gesundheitliche Ungleichheiten
Trotz hoher Ausgaben gibt es in Deutschland und in ganz Europa ausgeprägte gesundheitliche Ungleichheiten. Zahlreiche Public-Health-Studien belegen deutlich, dass der sozioökonomische Status eng mit Krankheitslast, Nutzung von Präventionsangeboten und Lebenserwartung verknüpft ist.
Strukturschwache Regionen sind dabei doppelt benachteiligt: Dort fehlt es nicht nur an entsprechender Infrastruktur, sondern auch an finanziellen Mitteln für eine gute medizinische Versorgung und – noch viel wichtiger – für die Vorbeugung von Krankheiten.

Digitalen Lösungen gelingt es nicht, diese Lücken zu schließen und besonders vulnerable Gruppen u.a. Migranten, Alleinerziehende oder Arbeitslose zu erreichen. Die Schwächen des deutschen Gesundheitssystems werden vor allem im direkten europäischen Vergleich mit Ländern wie Schweden oder der Schweiz deutlich, die beide aufgrund ihrer zentral koordinierten Public-Health-Politik bessere Ergebnisse bei Prävention und Lebenserwartung erzielen.
Gesundheitskompetenz im europäischen Vergleich

Diese Werte spiegeln die Effektivität nationaler Präventionspolitik wider – und dokumentieren deutliche strukturelle Defizite in niedrigschwelligen Angeboten, Koordination und Vermittlung von Gesundheitskompetenz.

Strukturelle Herausforderungen der Prävention
Die Präventionspolitik in Deutschland ist stark fragmentiert und erreicht gerade jene nicht, die sie am dringendsten brauchen. Hürden bestehen durch:
- fehlende Niedrigschwelligkeit und Alltagsnähe
- unregulierte Gesundheitskommunikation und wachsende Desinformation
- regionale Unterschiede, die besonders Migranten, Alleinerziehende oder Arbeitslose benachteiligen
- ernährungspolitische Maßnahmen wie verpflichtende Lebensmittelkennzeichnung oder gezielte Förderung gesunder Lebensmittel fehlen entweder oder werden zu industriefreundlich umgesetzt.
Viel Luft nach oben – und ein klarer Auftrag
Die Diskrepanz zwischen technischem Potenzial und realen Strukturen bleibt groß. Gesundheitliche Chancengleichheit zu fördern ist eine gesellschaftliche Aufgabe, die über individuelle Verantwortung hinausgeht und systemischen Barrieren entgegenwirken muss. Dies verlangt eine sozial ausgewogene, evidenzbasierte, institutionell abgestimmte und gegenüber Desinformation resiliente Gesundheitsförderung, bei der alle Parteien und Interessengruppen an einem Strang ziehen sollten, wenn wir eine nachhaltig verbesserte Gesundheitsversorgung für Deutschland erreichen wollen.
Viele sinnvolle Maßnahmen sind bekannt, werden aber nicht konsequent umgesetzt: Zuckersteuer, Lebensmittelampel, Förderung gesunder Lebensmittel oder stadtplanerische Ansätze gegen Hitze und schlechte Wohnbedingungen. Länder wie Österreich zeigen seit 2019, dass ein struktureller politischer Ansatz möglich ist.
Bei allem Pessimismus wollen wir aber auch die guten Nachrichten nicht verschweigen: Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung schätzen ihre Gesundheit weiterhin als gut bzw. sehr gut ein – und das trotz einer allgemeinen Polykrise, die den Menschen zu schaffen macht.

Anja Führbach, Market Intelligence Senior Expert
Quellen:
- https://www.aok.de/
- https://www.rki.de/
- SVP-Research