Biobasierte Rohstoffe, Biogas, Bioraffinerie

Die Chemieindustrie in Deutschland erlebt aktuell die schwerste Krise seit der Weltwirtschaftskrise 2009. Im Jahr 2022 fiel die Chemieproduktion im Vergleich zum Vorjahr um etwa 12 Prozent. Damit bricht sie stärker ein als in der Weltwirtschaftskrise. Auch im Jahr 2023 wird mit einem weiteren Produktionsrückgang von 8 Prozent gerechnet. Zwar kehrt langsam der Optimismus zurück, dennoch bleibt die Lage der deutschen Chemieindustrie schwierig und fragil.

Aktuell geht man davon aus, dass die Talsohle erreicht ist, aber es wird nicht mit einem dynamischen Aufschwung gerechnet. Die europäische und insbesondere die deutsche Chemieindustrie hat aufgrund der hohen Energiekosten ein Standortproblem im Vergleich zu anderen Regionen wie den USA oder Asien. Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieses Problem in naher Zukunft lösen lässt. Energieintensive Basischemikalien stehen in Deutschland vor dem Aus oder befinden sich in einer Abwanderung in Regionen mit niedrigeren Energiekosten. Um ihre Stellung auf dem globalen Markt zu verteidigen, muss die deutsche Chemieindustrie ihre Anstrengungen weiter verstärken und sich noch mehr auf Innovation, Effizienz und Nachhaltigkeit konzentrieren.

Die Entwicklung und der Einsatz neuer Technologien ist für die Transformation der chemischen Industrie hin zu einer nachhaltigen und klimaneutralen, aber auch wettbewerbsfähigen Industrie zwingend erforderlich. Wir befinden uns mitten in der vierten und aktuellen Entwicklungsstufe der chemischen Industrie, der Chemie 4.0. Sie stellt die digitale Transformation der chemischen Industrie dar, die darauf abzielt, die Effizienz, Produktivität und Nachhaltigkeit im Sinne einer digitalen Kreislaufwirtschaft zu verbessern.

Nachhaltigkeit liegt im Trend, weil immer mehr Menschen sich bewusst sind, dass man nur eine begrenzte Menge an natürlichen Ressourcen hat und dass der derzeitige Lebensstil nicht nachhaltig ist. Wie der letzte Bericht des Weltklimarates zeigt, verlangen Klima und Umwelt jedoch ein schnelleres Handeln als in der Vergangenheit. Die Chemieindustrie spielt als Schlüsselindustrie eine wichtige Rolle in unserer modernen Gesellschaft und ist die treibende Kraft hinter der Entwicklung von neuen Materialien und Technologien.

Andererseits hat die chemische Industrie auch einen erheblichen Einfluss auf die Umwelt und den Klimawandel, da sie häufig fossile und andere nicht-nachhaltige Rohstoffe als Ausgangsmaterialien verwendet. Um dieser Herausforderung zu begegnen und die Transformation hin in eine klimaneutrale Industrie zu schaffen, hat SVP sechs wichtige Handlungsfelder definiert.

Transformation of chemical industry

Zum Auftakt unserer neuen Artikelserie über die nachhaltige Umgestaltung der chemischen Industrie richten wir unser Augenmerk zunächst auf biobasierte Rohstoffe, Biogasanlagen und Bioraffinerien. Um eine erfolgreiche Transformation weg von einer erdölbasierten Industrie zu erreichen, müssen wir uns auf nicht-fossile und recycelte Rohstoffe konzentrieren. Die Zukunft gehört den nachhaltigen und umweltfreundlichen Lösungen.

Bioraffinerien sind ein Kernelement der aufstrebenden Bioökonomie. Das Konzept der „Bioraffinerie“ verfolgt das Ziel des langfristigen Ersatzes von Erdöl als wichtigen Rohstoff der chemischen Industrie und die Entwicklung einer biobasierten Industrie. Die Bioraffination beinhaltet die Umwandlung von Biomasse in verschiedene biobasierte Produkte und Komponenten zur weiteren Nutzung in verschiedenen Industrien. Durch die Nutzung nachwachsender Rohstoffe senkt die Industrie ihren CO2-Fussabdruck. Der Einsatz der daraus gewonnenen biobasierten Produkte reduziert den Verbrauch fossiler Rohstoffe. Biobasierte Rohstoffe der ersten Generation enthalten Zucker und Pflanzenöle, die in Nutzpflanzen vorkommen.

Aufgrund der Nutzung dieser pflanzlichen Ressourcen auch für die Nahrungsmittelproduktion ist der Einsatz stark umstritten (Tank-Teller-Diskussion). Daher ist es unumgänglich sich den Rohstoffen der zweiten Generation zuzuwenden. Hierzu zählen Abfallströme aus der Nahrungsmittelproduktion oder der Holzindustrie, lignozellulosehaltige Biomasse oder forstwirtschaftliche Nutzpflanzen und landwirtschaftliche Reststoffe oder Agrarabfälle. Spezielle Energiepflanzen, die nicht für den Lebensmittelbereich bestimmt sind und auf für die Nahrungsmittelproduktion ungeeignetem Land angebaut werden können, sind ebenfalls als Rohstoff von Interesse.

Die Bioraffination umfasst neben vorgelagerten Prozessen zur Vorbehandlung, die eigentliche Umwandlung (Fermentation) sowie nachgelagerte Prozesse zur mechanischen und thermischen Isolierung von Ölen, Fetten, Lignozellulose, Proteinen, Stärke und Zucker. Diese Stoffe werden für die Herstellung von Lebens- und Futtermitteln, Biokraftstoffen, Biokunststoffen und Bausteine für Chemikalien eingesetzt.

Die große Vielfalt in der Zusammensetzung der Biomasse als Rohstoff für die Bioraffinerien führt zu einer Reihe von unterschiedlichen technologischen Ansätzen und Bioraffineriekonzepten, wie bspw. Zucker- und Stärke-Bioraffinerien, Pflanzenöl- und Algenlipid-Bioraffinerien, Lignozellulose-Bioraffinerien, Synthesegas-Bioraffinerien und Biogas-Bioraffinerien.

Deutschland hat das Potential der Bioraffinerien erkannt und ist weltweit ganz vorne mit dabei. Der Studie „EU Biorefinery Outlook to 2030“ zufolge erwirtschaften rund 300 Bioraffinerien heute bereits in der EU einen Umsatz von mehreren Milliarden Euro mit biobasierten Produkten. Daraus werden aktuell in Europa rund 4,6 Mio. Tonnen Chemikalien und Werkstoffe hergestellt. Bis 2030 könnte die Produktion um weitere 1,1 bis 3,1 Mio. Tonnen steigen. Die Anlagen sind vor allem im mitteleuropäischen Raum, besonders in Deutschland, Frankreich, den Beneluxstaaten und Norditalien zu finden. In Deutschland produzieren derzeit ca. 60 Bioraffinerien. Eine aktuell besonders im Fokus stehende Anlage ist die Bioraffinerie von Europas größtem Papierproduzenten UPM am Standort Leuna.

Ab 2023 sollen hier auf Basis von Holz chemische Grundstoffe wie bio-Monoethylenglykol (MEG) und bio-Monopropylenglykol (MPG) hergestellt werden. Als Rohstoffbasis für eine jährliche Produktionskapazität von 220.000 Tonnen Chemikalien dienen regionales Laub- und Industrieholz, das nicht verwertet werden kann, sowie die Reststoffe aus den Sägewerken. Rund 550 Mio. EUR wurde in die weltweit erste voll integrierte holzbasierte Bioraffinerie investiert, die einen einzigen Rohstoff komplett zerlegt und daraus mehrere Zwischen- und Endprodukte herstellt.

In der EU beträgt derzeit der Anteil der Bioraffinerien, die forstwirtschaftliche Ausgangsmaterialien nutzen, rund 23 Prozent. Dominierend sind jedoch aktuell landwirtschaftliche Ausgangstoffe mit einem Anteil von 64 Prozent. Im Vergleich dazu spielen organische Abfälle und marine Quellen wie Algen noch eine untergeordnete Rolle.

Number of biorefinery by feedstock

Bioraffinerien werden eine unersetzliche Komponente der zirkulären Bioökonomie sein. Im wahrsten Sinne des Wortes eine echte Kreislaufwirtschaft, in der Stoffe zurückgeführt und erneut wieder raffiniert werden können. Vermutlich werden sich die Bioraffinerien in Zukunft noch in viel kleinere und dezentrale Einheiten verwandeln, um bspw. auch Biogasanlagen in die Rohstoffverwertung mit aufnehmen zu können. Es gibt viele Möglichkeiten und Ansätze den „klassischen“ landwirtschaftlichen Biogasprozess zu einer Bioraffinerie weiterzuentwickeln bzw. die Biogasproduktion als Bestandteil eines Bioraffinerieprozesses zu integrieren.
Neben den Bioraffinerien sollten auch Biogasanlagen in Zukunft wieder eine wichtigere Rolle bei der Herstellung von biobasierten Produkten spielen.

Eine Biogasanlage ist eine Anlage zur Erzeugung von Biogas durch den Abbau von organischen Materialien unter anaeroben (sauerstofffreien) Bedingungen. Biogas ist ein erneuerbarer Energieträger, der hauptsächlich aus Methan und Kohlendioxid besteht. Es kann zur Strom- und Wärmeerzeugung genutzt werden oder als Kraftstoff für Fahrzeuge dienen. Die Herstellung von biobasierten Produkten für die Chemieindustrie aus dem Methan der Biogasanlagen spielt aktuell eine untergeordnete Rolle.

Dem Bundesverband Bioenergie e.V. (BBE) zufolge gab es 2022 in Deutschland insgesamt rund 9.900 Biogasanlagen mit einer installierten Leistung von ca. 6.000 Megawatt (MW). Laut einer Schätzung der European Biogas Association (EBA) lag die Anzahl der Biogasanlagen in Europa Ende 2020 bei insgesamt etwa 17.000 Anlagen, die zusammen eine installierte Leistung von mehr als 16.000 Megawatt erreichten. Die meisten Biogasanlagen befinden sich innerhalb Europas in Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien. Ähnlich wie in Europa verzeichnete auch der deutsche Markt für Biogasanlagen in den letzten Jahren eine Stagnation, wenn man sich die Entwicklung der Biogasanlagenzahl anschaut. Dies ist auf politische Veränderungen und die verstärkte Förderung anderer erneuerbarer Energien wie Solar- und Windenergie zurückzuführen.

Biogas plants in Germany

Der Markt für Biogasanlagen muss eine Renaissance erleben, insbesondere wenn Biogas vermehrt als Ausgangsstoff für die Produktion von Biokunststoffen und anderen biobasierten Materialien eingesetzt wird und wieder stärker in den Fokus der chemischen Industrie rücken soll, da dies eine Reihe von Vorteilen im Vergleich zu fossilen Rohstoffen bietet. Zum einen handelt es sich um einen erneuerbaren Rohstoff, der zur Reduzierung der Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen beitragen kann. Zum anderen kann es dazu beisteuern, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren, da die Produktion von biobasierten Materialien aus Biogas im Vergleich zur Verwendung von fossilen Rohstoffen in der Regel weniger Kohlendioxid ausstößt.

SVP sieht Handlungsbedarf vor allem darin, stärker in die Bereiche Bioraffinerien, Biogasanlagen und Produktion biobasierter Produkte zu investieren, damit die Herausforderung der Transformation hin zu einer nachhaltigen und klimaneutralen Chemieindustrie gelingt.

Der Einsatz der Biogas- / Bioraffinerie-Technologien und die Verwendung von Biomasse und organischen Abfällen bieten eine nachhaltige Alternative zu den erdölbasierten Rohstoffquellen. Sie tragen dazu bei, die Rohstoffabhängigkeit zu reduzieren, den CO2-Fußabdruck der Produkte bzw. die Treibhausgasemissionen der Chemieindustrie zu verringern und eine effiziente Kreislaufwirtschaft zu etablieren. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Erreichung der Nachhaltigkeitsziele und zur Bewältigung der Herausforderungen des Klimawandels.

Im nächsten Artikel wendet sich mein Kollege, Herr Dr. Hinz, dem für die Chemieindustrie wichtigen Thema der Wasserstoffwirtschaft zu. Dabei wird er insbesondere auf die Bedeutung von grünem Wasserstoff für eine nachhaltige Produktion in der Chemieindustrie eingehen und aufzeigen, welche Potenziale und Herausforderungen mit dieser Technologie verbunden sind.

Dr. Volkhard Franke, Market Intelligence Senior Expert

Quellen: