Muss sich die Chemie in der Energiekrise neu erfinden?

Die deutsche Chemieindustrie hatte im ersten Halbjahr 2022 eine Reihe von Herausforderungen zu bewältigen: Hohe Frachtkosten, lange Lieferzeiten sowie Engpässe bei Rohstoffen beeinflussten die Geschäftstätigkeit der Chemieunternehmen in Deutschland. Die aktuell sprunghaft steigenden Preise für Rohstoffe und Energie – vor allem für Erdgas – und eine drohende Gasmangellage stellen die Chemieindustrie jedoch vor ganz neue und ungeahnte Herausforderungen.

Als energieintensive Branche entfällt rund 10,5 Prozent des deutschen Energieverbrauchs auf die Chemieindustrie. Bei Erdgas und Strom, den beiden wichtigsten Energieträgern der Branche, ist der Anteil noch höher. Vergleicht man die Chemieindustrie mit anderen Industriezweigen, so zeigt sich, dass die Herstellung von chemischen Erzeugnissen die meiste Energie erfordert (2020: 304,7 Mrd. kWh).

teigen die Energiepreise in Deutschland weiter, wird es als deutsches Chemieunternehmen schwierig, wettbewerbsfähig zu bleiben, vor allem im Bereich der chemischen Grundstoffe, da man mit Wettbewerbern aus Regionen konkurriert, in denen Energiepreise um ein Vielfaches niedriger sind. In der EU kostet Erdgas im Großhandel derzeit mit etwa 200 EUR/MWh rund zehnmal so viel wie in den USA. Die Produktion chemischer Grundstoffe ist in Deutschland sehr stark bedroht und aktuell nicht wettbewerbsfähig. Das könnte zu einer Verlagerung der Produktion an Standorte mit niedrigeren Energie- und Erdgaskosten außerhalb von Deutschland und Europa führen. Dem Industrieverband Agrar zufolge ist eine betriebswirtschaftlich vernünftige Erzeugung des wichtigen Rohstoffs Ammoniak in Deutschland zurzeit kaum möglich. Die BASF hat aufgrund der hohen Erdgaspreise die Kapazitäten der Ammoniak-Produktionsanlagen in Antwerpen und Ludwigshafen bereits zurückgefahren.  

Steigende Energiepreise sind in Deutschland kein neues Phänomen. In der Vergangenheit konnte man jedoch diese Kosten sehr gut an den Endkunden weiterreichen, so auch in der derzeitigen Post-Corona-Phase, die einen Nachfrageboom nach chemischen Produkten auslöste. Die drohende Gasmangellage und die daraus resultierende Explosion der Energie- und Erdgaspreise trifft die Chemieindustrie jedoch an einem wunden Punkt.

In der Chemieindustrie wird Erdgas, im Vergleich zu anderen Industrien, nicht nur zur Energie-gewinnung, sondern auch als Ausgangsstoff für eine ganze Reihe wichtiger chemischer Vorprodukte, wie bspw. Syngas, Ammoniak und Acetylen benötigt. 27 Prozent des Erdgases wird in der deutschen Chemieindustrie als Rohstoff eingesetzt, der restliche Anteil (73 Prozent) zur Energiegewinnung. 2021 wurden rund 3,2 Mio. Tonnen Erdgas als Rohstoffbasis für die organische Chemie in Deutschland benötigt.

Das entspricht einem Gesamtanteil von 16 Prozent. Die wichtigste Rohstoffquelle ist hier das Rohbenzin Naphta mit einem Anteil von 69 Prozent (19,4 Mio. Tonnen). Weitere Quellen sind nachwachsende Rohstoffe (13 Prozent) und Kohle (2 Prozent).

Der Anteil der Chemieindustrie am gesamten deutschen Gasverbrauch zur Energiegewinnung beträgt mehr als 15 Prozent und ist somit der größte Verbraucher in Deutschland. Nach Angaben des Bundesverbands Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) beträgt das aktuelle Substitutionspotenzial für Erdgas jedoch nur rund 4 Prozent und zeigt das derzeitige Dilemma deutlich auf. Erdgas ist aktuell ein unverzichtbarer Rohstoff und ein nur schwer zu ersetzender Energieträger für die Chemieindustrie.

In jeder Krise ergeben sich jedoch auch neue Chancen und es setzt unmittelbar Potenziale frei. Diese sollten als Katalysator für eine Transformation der Chemieindustrie dienen, weg von einer erdölbasierten Chemie und der Abhängigkeit zu hoher Energiekosten. Die Chemieindustrie muss in Deutschland eine Zukunft haben und wettbewerbsfähig bleiben. Die Unternehmen haben dies erkannt. So kündigte Covestro bei der Veröffentlichung der Finanzenzahlen zum zweiten Quartal 2022 an, dass eine Abkehr von fossilen Rohstoffen und Energiequellen forciert werden soll. Von der Politik fordere man „technologieoffen und entideologisiert“ nach Alternativen zu Gas als Energieträger zu suchen.

Die Chemieindustrie ist mehr denn je mit fundamentalen und strukturellen Veränderungen konfrontiert. Die Entwicklung und der Einsatz neuer Technologien ist für die Transformation der chemischen Industrie zwingend erforderlich.

Folgende Handlungsfelder sind aus Sicht von SVP von zentraler Bedeutung:

  • Ausbau und Bereitstellung ausreichender Kapazitäten erneuerbarer Energie zu wettbewerbs-fähigen Preisen
  • Entwicklung neuer Technologien und Verfahrensprozesse (elektr. Steamcracker, industrielle Großwärmepumpen,  ..)
  • Einführung einer (Kunststoff)kreislaufwirtschaft zur Reduktion der Abhängigkeit fossiler Rohstoffe
  • Deutlicher Ausbau der Produktionskapazitäten von biobasierten Rohstoffen, Biogas und Bioraffinerien
  • Förderung von Schlüsseltechnologien wie Carbon Capture and Utilization (CCU)
  • Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft inkl. der Eigenproduktion von Wasserstoff

Die aufgeführten Handlungsfelder, die wir in einer nachfolgenden Artikelserie genauer untersuchen werden, führen uns unweigerlich hin zu einer klimaneutralen Chemie der Zukunft.  

Dr Volkhard Franke, Market Intelligence Senior Expert

Sources: